Ornella, unser Weihnachtsengel

“Il buon cibo riscalda l’anima”

Normalerweise feiern wir unser umbrisches Weihnachts-Mittagessen am ersten Feiertag immer zusammen mit unserer Köchin und Freundin Ornella und ihrer Familie. Das heißt, wir haben seit nunmehr 15 Jahren die Ehre, zu ihrer Familienfeier eingeladen zu sein.

Schon wenn wir pünktlich um 13 Uhr an der Haustür klingeln, hebt ein ohrenbetäubender Lärm an: Ornellas Schoßhund, ein Reh-Pinscher namens „Gastone“, kläfft vom 4. Stock des Mietshauses herab schrill durchs Treppenhaus, dazu Ornellas lautstarke Begrüßungssalven. In einem deutschen Mietshaus würden sich, zumal am heiligen ersten Weihnachtsfeiertag, spätestens nach einer Minute sämtliche Türen öffnen und erboste Nachbarn zur Ruhe mahnen. Nicht so in Italien, da ist Lärm das beste Zeichen für gute Feiertagsstimmung!

Nach zahlreichen Umarmungen und Küsschen, Glückwünschen und gegenseitigem Geschenke-Schlagabtausch nehmen wir schließlich in dem Gewusel am großen Familientisch Platz.

Da sitzt dann die ganze Großfamilie mit Kindern, Enkeln, Urenkeln, Tanten und Brüdern, Nichten und Neffen – mindestens 25 Personen – dicht an dicht an einer langen Tafel im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung. Der Tisch ist improvisiert, die Jüngeren werden auf Klappstühlen platziert und am Kopfende thront die weit über 90jährige „Nonna“, die Großmutter. Der Raum ist erfüllt vom Stimmengewirr der Erwachsenen, die sich beim Prosecco zuprosten. Die Kinder reißen kreischend Ihre Geschenke auf und dann flitzen unter dem Tisch, im Gang, auf den Sofas die blinkenden und quiekenden Rennautos und alle 7836 Klingeltöne des neuen Handys werden vorgeführt. Mittendrin Gastone, der eifersüchtig auf seine Mamma Ornella und seine diversen Spielzeuggeschenke aufpasst und regelmäßig kläffend zum allgemein gehobenen Lärmpegel beiträgt.

In ihrer winzig kleinen Küche haben Ornella und ihr Mann in den Tagen vor Weihnachten aus mindestens 30 Eiern Nudelteig gemacht, Fleischfüllung gesotten und dann Hunderte von Cappelletti, kleinen hütchenförmigen Nudeln geformt, die anschließend auf Bettlaken in der ganzen Wohnung verteilt getrocknet wurden. Sie hat natürlich Fleischragù für die Tagliatelle gekocht, Hühnerleberpastete für die Crostini und dann gebratenes Lamm und Geflügel. Ornellas Schwägerin trägt zum Dessert selbstgemachten Torrone bei, Ornellas Tochter bringt den köstlichen Panettone.

Es wird stundenlang gegessen, oft bis es schon wieder dunkel wird, dann holt Franco den Nusslikör oder einen Grappa zum “Herabkühlen” des Espresso hervor. Es wird ruhiger, und plötzlich fällt auf, dass Gastone sich schon länger nicht mehr bemerkbar gemacht hat. Mamma Ornella sucht nach ihm und da liegt er selig schlafend auf ihrem Bett, umringt von Resten von Stanniolpapier und Schokolade, wie ein Drache, der seinen Goldschatz bewacht.

Nach und nach verabschieden sich die Gäste und ziehen weiter, um noch bei Freunden und Bekannten Weihnachtsgrüße vorbeizubringen. Und auch wir gehen schließlich, unendlich satt und voller Weihnachtsfreude. Jedes Jahr schätzen wir uns aufs Neue glücklich, von Ornellas Familie “adoptiert” worden zu sein.

Einmal kam es aber ganz anders:

Wolfgangs Mutter war im Krankenhaus und konnte nicht zu uns kommen. Kurzfristig entschieden wir, zu Weihnachten nach München fahren, um sie für das Fest nach Hause holen zu können.

So luden wir am 23. Dezember unser Auto voll mit zwei Kindern, einem Hund, einem Weihnachtsbaum, diversen Geschenken, einem Vorrat an Plätzchen und den Resten aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg machten wir noch kurz bei Ornella Halt, um ihr unsere Weihnachtsgeschenke vorbeizubringen. Sie bedauerte uns sehr, dass wir die weite Wegstrecke machen mussten und versorgte uns mit einem Korb mit “Weihnachtsgaben”. Als echte italienische Mamma war ihre größte Sorge, dass wir zu Weihnachten “in der Fremde” womöglich Hunger leiden könnten.

Ragú di carne
Ragú di carne

Nach langer Fahrt über verschneite  Autobahnen kamen wir spät in der Nacht und ziemlich erledigt in München an. Alle hatten Hunger und schlechte Laune, Omas Wohnung war kalt und der Kühlschrank leer. Da fiel mir Ornellas “Care-Paket” ein. Ich fischte eine Plastikdose mit Ragú heraus, fand noch einen Pack Spaghetti und weit nach Mitternacht – eher schon am Morgen des Heiligen Abend – verschlangen wir die herrlich duftende nahrhafte Pasta.

Ornellas Ragú ist das Beste auf der Welt, das wussten wir schon seit vielen Jahren. Aber so gut wie an diesem Abend hatte es uns noch nie geschmeckt. Damals verstanden wir sehr gut, was Ornella meint, wenn sie sagt:

“Il buon cibo riscalda l’anima” – “Gutes Essen wärmt die Seele”

Ornella unser Weihnachtsengel
Ornella unser Weihnachtsengel

Am Heiligabend musste schnell noch Omas Wohnung auf Vordermann gebracht, der Baum aufgestellt und geschmückt, ein paar Einkäufe gemacht und schließlich die Oma aus dem Krankenhaus geholt werden. Am Abend gab es dann in guter deutscher Tradition – und der Einfachheit halber – Kartoffelsalat mit Würstchen.

Am ersten Weihnachtstag kam Wolfgangs Schwester mit ihrer Familie zu Besuch: Und da konnte ich ein zweites Mal aus Ornellas „Weihnachts-Survival-Kit“ zaubern, und zwar ein fast komplettes umbrisches Weihnachtsessen: Crostini mit Leberpastete, Brühe mit Cappelletti und Schweinebraten (den hatte ich noch schnell selber zubereitet). Alles schmeckte vorzüglich, nur fehlte uns ein bisschen der weihnachtliche Lärmpegel …

Dankbar tranken wir nach dem Essen einen Extra-Schluck auf Ornella, unseren Weihnachts-Engel!

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